2016: Aggroprolypse

Sommer 2016, Selfie als junger Kreativer. Mohamed schießt ein Foto in #Nizza. Riaz bespielt sein Smartphone in #Würzburg. Mohamed produziert ein Video in #Ansbach. David schreibt in #München ein Manifest. Der Sommer war groß, Herr, alle sind tot. Wir warten auf den Winter.

Aggroprolypse löst im Monolog das Gegenüber im Virtuellen auf. Wie wird man man selbst? Wie wirksam? Das an die großen sozialen Algorithmen angeschlossene Selfie-Selbst ist eine Prophezeiung, die sich ad hoc einlöst: Gebet, Botschaft, Porno, Testament. Vor der Webcam versteht ein Ich alles von sich selbst. Selfie als junges Mädchen vorm Computer. Selfie in der Kirche, vor der Geflüchtetenunterkunft, Selfie als Kulturgut. Köpfe in der Hand haltend, lächelnd: Selfie mit Gott, mit Axt, mit Maus. Selfie in den Ruinen der Demokratie.

Entlang einer Auswahl von YouTube-Predigten re-enacted Schauspielerin Marina Miller Dessau Konfigurationen postpolitischer Glaubensbekenntnisse. Im Pseudo-Dialog mit der Maschine streamt sie ihre Wiederholungen dieser Aufrufe live auf Facebook zurück in das Netz, aus dem sie kommen. Dem realen Publikum im Theater gesellt sich so eine potentielle virtuelle Zuschauerschaft hinzu, die dem Theater für kurze Zeit symbolisch die verlorene Wirksamkeit zurückerstattet: In den Feedbackschleifen von Online-Propaganda fallen Authentizität, Entertainment, Poesie und Terror in eins.

Die Technik begleitet die Übung mit Online-Suchen nach den Quellen des Materials und einem möglichen Soundtrack des Erwachens. Hin und her geworfen zwischen Voyeurismus und Hilflosigkeit wohnt das reale Publikum der Betrachtung der Welt des virtuellen bei. Am Ende bleiben ein neuer Trailer für die Show und ein letzter Rest Sehnsucht nach einem Ausweg aus dem selbstverschuldeten Wahnsinn.

Ironisch gebrochen wird diese Phalanx der Besorgten nur durch deren minimalistische Nachstellung von der Schauspielerin Marina Miller Dessau auf der Bühne. Doch bleiben es Wahn-Monologe, die bedrücken. „Aggroprolypse“ gehört […] zu den aufwühlenden Momenten der ersten Festivaltage.

(Berliner Zeitung, 24.10.2016)

Aggroprolypse

Monolog.

Oktober 2016,
Theaterdiscounter Berlin.
Juli 2017,
Festival Impulse Köln

Influencer:
Christopher Böhm
Marina Miller Dessau
Arne Vogelgesang

Video:
Lenny Triefenschal

Produktion:
Marian Holzstedt

Eine Produktion von internil in Koproduktion mit dem Monologfestival 2016.