2008: Ein altes Blatt

Ein altes Blatt erarbeiteten wir über drei Monate hinweg öffentlich in leerstehenden Läden im Leipziger Stadtraum. Das Projekt verknüpfte das Nachturnen von Fitness­videos mit zwei Texten von Franz Kafka. Alle zwei Wochen zogen wir in einen anderen Laden in Leipzig um, zappten uns „schauturnend“ durch die Stadt. Das Publikum war eingeladen, sich an den Übungen zu beteiligen, die jeweiligen Orte und Termine publizierten wir mit einer Plakat-Aktion und über das Internet. Turnende Döner­verkäufer oder Barbie-Choreographien tanzende Schaulustige vor den Schaufenstern waren die Folge. Für uns galt, dass nicht nur Bewegungen, sondern auch Kleidung und Mimik den Original­videos entspre­chen mussten. Natürlich sprachen wir auch die Anwei­sungen mit („Ihr seid super! Ihr seht toll aus!“).

Für die beiden Kafka-Texte stellten wir in Mimesis an den Autor vier „Originalhandschrif­ten“ her, die sämtliche Streichungen, Einfügungen, Überschrei­bungen und Fehler der Urtexte enthielten. Ausgehend von diesem Material erarbeiteten wir für den kürzeren der Texte, „Ein altes Blatt“, eine Chorform, in der sich die vielen Korrekturen auf die einzelnen Sprecher verteilten, ohne dass die Sprechreihenfolge dabei festgelegt war. Die klangliche Gestalt dieses sich selbst fortwährend korrigierenden Chors war also jedes Mal anders. Den längeren Text, „Beim Bau der chinesischen Mauer“, zerteilten wir abschnittsweise in Bruchstücke, die wir einzeln wie Lose zogen. Dieser Umgang mit der Textgestalt entsprach der kafkaschen Beschreibung des Mauerbaus, der – wie auch unser Videoturnen an immer neuen Orten – in vereinzelten Abschnitten von kleinen Arbeitsgruppen im Auftrag einer unbekannten Führung ausgeführt wurde. Jeder von uns besuchte dafür einen öffentlichen Vortrag in der Stadt und reproduzierte im Folgenden Gestik, Mimik und Tonfall des Vortragenden für die Gestaltung der Textbruchstücke.

Das so erarbeitete Stück führten wir im Februar 2008 im Projektraum Kuhturm in Leipzig-Lindenau auf. Der Chor eröffnete den Abend auf ruhige und konzentrierte Weise, wir und das Publikum beobachteten während des Sprechens/Hörens die vor dem Schaufenster vorbeifahrenden Straßenbahnen und die Passanten. Es folgte ein anderthalbstündiger Parcour von Fitnessvideos und verteiltem Vortrag über den Mauerbau an vier Fernsehapparaten in drei Räumen. Spieler wie Publikum waren ständig in Bewegung; wer von uns nicht sprach, musste turnen, wer von den Zuschauern sich auf ein Geschehen konzentrierte, versäumte ein anderes. Die Anstrengung mündete in eine gemeinsame Meditation vor einem Zen-Lern-Video: „Jeder Tag ist ein guter Tag“.

Ein altes Blatt

Bruchstück für 4 Spieler, Gymnastikvideos, Ladenlokale und Franz Kafka.

Nov. 2007 bis Feb. 2008,
Leipzig.

Team:
Franka Beck,
Marina Dessau,
Juliane Meckert,
Arne Vogelgesang.

Raum:
Kolonnadenstr. 8
Zschochersche Str. 61
Merseburger Str. 17
Alte Salzstr. 60
Eisenbahnstr. 115b
Karl-Liebknecht-Str. 97
Kuhturmstr. 4

Video/Körper:
Telegym Gesunder Rücken
Telegym Aerobic
Yoga Facial
Pilates for Dummies
Telegym Aktiv in den Tag
Fit mit Barbie
Chi Kung – The Healing Workout
Billy Blank’s Ultimate Bootcamp
Telegym Aktiv und fit gegen Osteoporose
Telegym Zen-Meditation

Text:
F. Kafka: Ox8°3 (Kritische Ausgabe):
Ein altes Blatt, Beim Bau der chinesischen Mauer

Vortrags-Gestus:
Prof. Dr. Angela D. Friederici: Wie das Gehirn Sprache verarbeitet.
Prof. Dr. Rolf Hasse: Der Faktor Arbeit in Europa – Beschleunigung des Strategiewandels im Aufholungsprozess der MOEL.
Nora Lampeter: Women in general.
Prof. Dr. Klaus Dicke: Die Universitäten am Scheideweg – Exzellenzinitiative und die Differenzierung der Hochschullandschaft.

Werbemittel:

Wir danken:
Rike Plößl für die wichtige Starthilfe, Josephin Eckhardt für die Begleitung ein Stück weit, dem Kuhturm für die herzliche Aufnahme und den Aufführungsort, Matthias Schirmer vom QM Volkmarsdorf, Peggy Diebler und Tobias Habermann vom QM Leipziger Westen und Antje Kretzschmar vom QM Grünau für ihr Engagement; dem elipamanoke, der Merseburger Str. 17 und dem Dekadent für Spielraum; Roland Reuß für Einsichten in Heidelberg; Deborah van der Kuil-Jansen für die Dohle; Anja Winterhalter und Luise Schröder für Fotos; Birgit Czeschka von der Medienwerkstatt Leipzig für eine Barbiekopie; dem Schreibmaschinencafé für Stühle.

Christoph Wirth, Rusul Al-Jaanabi, Hannah Sieben, Hilmar Neuroth, Chinook, Jens Neubauer, Christian Rost, Claudia Laßlop, Susanne Pommeranz und vielen anderen für ihre Hilfe.

Was hätten wir getan.