Zum Anbruch des deutschen Herbstes 2015 lud internil auf den Abenteuerspielplatz des politischen Internets. Mit unserem Publikum surften wir durch Texte, Bilder, Lieder und Videos verschiedener radikaler Lager und Einzelkämpfer*innen. In einer einführenden Besprechung im integrativen Stuhlkreis setzten wir den Rahmen dafür, dass unsere Reproduktion von Propaganda auf dem sicheren Boden der FdGo stattfand: ein Planspiel des Verfassungsschutzes, in dem eine Dorfgemeinschaft über die extremistische Vereinnahmung „ihres“ Soldatenfriedhofs berät. Während wir die Rolle der Extremisten (rechts, links, islamistisch) übernahmen, fiel unseren Zuschauer_innen die Rolle der drei bürgerlichen Parteien (Freiheit, Gleichheit, Solidarität) zu, zwischen denen sie wählen durften. Die Rolle des Soldatenfriedhofs übernahm Deutschland.
Im Laufe der drei Phasen des Planspiels – „Das Politische ist privat“, „Politische Bildung“ und „Was tun“ – füllten wir den anfänglich weitgehend leeren Saal des Theaterdiscounters mehr und mehr mit Propagandamaterial, das um die Aufmerksamkeit der Zuschauer_innen stritt: Performative Reproduktionen von Youtube-Botschaften, Lieder verschiedener Lager, verlesene Aufrufe, Mobilisierungsvideos auf fünf Bildschirmen und drei Beamern, Hintergrundinformationen und Bildmaterial an den Wänden. Während in der ersten Phase Material noch linear vorgestellt wurde und das Publikum einzelnen repräsentierten Videobotschaften von Station zu Station durch den Raum folgen konnte, griff in der zweiten Phase das Prinzip der Gleichzeitigkeit und erzeugte das Gefühl, im Netz zu sein.
Um auf dieser Surftour zwischen Reichsbürgern und Postautonomen, Neurechten und Altnazis, Jihadisten und Counterjihadisten, Antideutschen und Antiimperialisten, Infokriegern und „besorgten Bürgern“ mit dem postpolitischen Wahnsinn mithalten zu können, hatten wir technologisch aufgerüstet. Die vier Performer_innen waren mit vernetzten, mobilen Minicomputern mit Audio- und Videointerface ausgestattet, die ihnen individuellen Zugriff auf das Propagandamaterial gestatteten und es ihnen erlaubten, sich an verschiedenen Orten an Bildschirme anzuschließen, um Videomaterial sichtbar zu machen. Gleichzeitig gestattete das Netzwerk es auch unserem zentralen Rechenzentrum, bei Bedarf die Funktionen dieser Computer fernzusteuern. In der Zentrale steuerten zwei Mitarbeiter die Maschinerie und filmten gleichzeitig das Geschehen.
Für das Forecast Festival 2016 am Haus der Kulturen der Welt Berlin proklamierten wir in Kooperation mit der belgischen Avantgarde-Gruppe CREW den Beginn eines Archivs radikaler Avatare. Wir installierten eine Motion-Capture-Anlage, in der Besucher ausgewählte Videobotschaften aus unserer Sammlung nachspielen konnten. Ihre Körperbewegungen oder ihre Mimik wurden aufgezeichnet und mit einem Avatar verknüpft, der sich zu einer wachsenden Gruppe radikaler Protagonisten gesellte, die in einem virtuellen Wald für den Einsatz trainierten. Mit Mirror Stage feierten wir unseren Einstand im internationalen Kunstbereich und machten den ersten Schritt in eine zukünftige Erforschung der Bühnen virtueller Realität.
Glühende Landschaften
Neue Deutsche Surfrevue
August 2015 – Februar 2016,
Theaterdiscounter Berlin,
HKW Berlin (Mirror Stage)
Crew:
Christopher Böhm,
Katharina Haverich,
Holger Heißmeyer,
Patrick Heppt,
Marina Miller Dessau,
Jessica Schwan,
Arne Vogelgesang
Video:
Lenny Triefenschal
Produktion:
Ilka Rümke/ehrliche arbeit
Assistenz:
Caroline Froelich
Gefördert
durch den Regierenden Bürgermeister von Berlin – Senatskanzlei/Kulturelle Angelegenheiten & die Kulturstiftung des Freistaates Sachsen.
In Kooperation
mit dem Theaterdiscounter Berlin
und Forecast.
Fotos:
Nils Bröer.