2018: Gog / Magog

Bilder und mehr auf der Projekthomepage: www.gogmagog.de.

Mit GOG / MAGOG veranstalteten wir gemeinsam mit der israelischen Künstlerin Moran Sanderovich, dem Singer-Songwriter Brandon Miller, dem Berliner Theaterdiscounter und weiteren Gästen eine apokalyptische Desinformations­kampagne in 4 Etappen.

Im Gepäck hatten wir klassische Handbücher zur Orientierung im Desaster: Torah, Bibel, Koran und das Internet. Zwischen alter Erzählkunst und totaler Vernetzung, zwischen Masken aus Fleisch und leuchtenden Avataren hatten wir uns vorgenommen, den Kampf an der Front der Wahrheit endgültig zu verlieren – auf die schönstmögliche Weise.

Teil 1: Ukraine

Zum Auftakt unserer zweijährigen Expedition bereisten wir mit unserem eingebetteten Publikum die Bilder und Geschichten ukrainischer Schlachtfelder. Im Getümmel virtueller Forensiker, kriegsbegeisterter Söldnertrupps, orthodoxer Schismen, wirtschaftlicher Überfallkommandos und internationaler Trollregimenter, so dachten wir uns, brauchte es mobilisierende Antworten – koste es, was es wolle. Aufklärung war endlich wieder eine Kriegstechnik, Wahrheiten noch immer Massenvernichtungswaffen. In einem Stellvertreterkrieg der Fakten spürten wir der Lust an Ohnmacht und Verwirrung nach.

Dazu verwandelten wir den Theaterdiscounter in ein Brückenkopflager aus Zeltfetzen und notdürftiger Infrastruktur. Mit Campingstühlen ausgestattet, war das Publikum innerhalb des Aufführungsraumes frei beweglich und musste sich zeitweise zwischen simultanen performativen Angeboten entscheiden, die sich im Zelt der Augenzeugen oder am Digitalen Kartentisch ausspielten: performatives Reenactment von Videozeugnissen, parabelhaftes, journalistisches oder wirtschaftskriminologisches Storytelling. Oder sie zogen sich zurück in die Teeküche mit Getränkeversorgung und Skypeinterviews ukrainischer Kulturschaffender oder an das Lagerfeuer mit Songs inmitten einer digitalen 3D-generierten Winterlandschaft, die sich über den Verlauf des Stücks von einer friedlichen Morgenstimmung in eine nächtliche Kriegsszenerie entwickelte.

Teil 2: Syrien

Syrien. Wen sollen wir nach dem Weg fragen? Die Syrer. Welche? Die mit den syrischen Identitäten, Familien, Stämmen, Ethnien, Religionen. Quellen. Älteste, Warlords, Fraktions­führer, NGO-Vertreter, Agenten regionaler und globaler Mächte. Die Überlebenden. Oder vielleicht fragen wir besser die Toten? Das Internet weiß doch bestimmt, wo‘s lang geht. Rund um den erzählten Kriegsschauplatz lassen wir die Widersprüche wirken: Lückenhafte Übersichten, persönliche Leidens­geschichten, parteiische Berichterstattung, spektakuläre Propaganda, bewegende Lieder, alte Mythen. Von der schützenden Feuerstelle eröffneten sich uns und unserem dem Publikum viele Wege ins Ruinenfeld der Wahrheiten. Jede Wahrheit aber baut eine Mauer. Oder sie zieht in den Krieg.

GOG / MAGOG 2 begann in einer klassischen Black Box vor sitzendem Auditorium, dem wir die einzelnen Beteiligten und ihre Erzählformen an performativen Beispielen vorstellten: Kulturelle Repräsentation mit Gesang und Lesung aus dem Koran, biographisches Erzählen, multimediale Desinformation, literarische Reportage, pseudowissenschaftlicher Vortrag, berührendes Songwriting. Das Publikum wurde daraufhin in den größeren Hinterbühnenraum geführt, wo es sich in einer fixierten Zeitstruktur von drei fünzehnminütigen Blöcken eigenständig zwischen simultanen Erzählangeboten entscheiden musste – den Konflikt mit ornithologischen Motiven aufschließendem narrativem Storytelling, kartengestützter Geschichtserzählung mit Aufklärungsanspruch und biographischen Fluchterzählungen unseres Gastperformers. Zwischen die einzelnen Abschnitte waren Versammlungen am Lagerfeuer gesetzt, die von Songs vor einer live-generierten Wüsten-und-Ruinen-Landschaft gestützt wurden.

Teil 3: Israel

Stammesland. Heiliges Land. Wer hat ein Recht darauf? Wessen Tempel öffnen das Auge Gottes über ihm? Wer gibt ihm seinen Namen? Wer erzählt seine Geschichte, in welcher Sprache, und wie? Die Spur der Toten in Wasser und Sand ist eine heilige Schrift und Krieg die Maschine, die sie schreibt und liest. Auf unserer dritten Etappe stießen wir an vergangene und gegenwärtige Grenzen, Grenzverletzungen. In einem virtuellen Ausstellungsraum wechseln Ja und Nein, Recht und Unrecht, Freiheit und Zwang, High und Low Tech beständig die Sprachen und Seiten und zerren uns mit. Stopp, Kontrolle, sagen die Glaubenden. Wer wagt es hier, „wir“ zu sagen?

„Wir“ verengten mittels zusätzlicher Wände den Saal des Theaterdiscounters zu einem weißen Galerieraum, über dem eine Installation von Leuchtstoffröhren sowohl eine typisch kühle Galerieatmosphäre als auch wetterleuchtende Effekte erzeugen konnte. Der Abend entwickelte sich vom Live-Reenactment einer Ausstellungseröffnung der israel­kritischen Initiative „Breaking the Silence“ über Propaganda-Mashups und Schlagabtäusche bis zu einer improvisierten erbitterten Diskussion über Holocaustrelativierung zwischen den Performerinnen am Schluss. Silikonobjekte, 3D-Avatare ebenso wie strukturierende Songs wurden auf Podesten zu Ausstellungsgegenständen erhoben.

GOG / MAGOG 2 verfolgte das Ziel, den immer wieder als binär erzählten Israel-Palästina-Konflikt auf das Publikum zu übertragen und so den moralischen Druck zu vermitteln, sich in diesem Konflikt auf einer Seite politisch zu positionieren. In seiner am Schluss erreichten Unmittelbarkeit war der Abend so ein Gegenstück zur ästhetischen Verarbeitung des vorhergehenden Teils der GOG/MAGOG-Serie und wurde durch zahlreiche Gastspiele eines unserer meistgespielten Stücke.

Teil 4: Europa

So viel sind wir gereist. Doch oh, wir erinnern uns an die Heimat. Die Landschaft! Der Himmel! Wie schön sie doch war. Wie gut es uns ging. Wie viel Angst wir hatten um sie, und vor ihr. Jetzt ist alles vorbei. Wir haben uns eingerichtet in der Zeit nach unserer Zeit. Die Ruinen sind gewaschen. Die Hoffnungen sind konserviert. Wir glauben mit Knochen und Haaren und Haut. Unsere vergangene Zukunft ist so wahr wie es nur geht. Kommt, wir erinnern uns gemeinsam an sie.

Nach anderthalb Jahren Kriegstourismus versammelten wir unser Publikum zum letzten Mal um das Lagerfeuer zum Abgesang auf die „Alte Welt“. Unser heiliges Oktagonfloß bot Platz für 25 Gäste, die späteuropäische Bildungsliturgie wurde auf deutsch oder englisch gehalten. 

Versetzt in eine fiktive Zukunft nach dem Ende körperlicher Existenz, baten wir eine je kleine Publikumsgruppe in ein virtuelles Geschichtslehrprogramm über den Niedergang Europas. In Form einer postchristlichen Liturgie, die Rezitation von Bibelstellen, gemeinsames Liedersingen und rituelle Gemeinschaftshandlungen wie Hände-Waschen, Brotchips-Essen oder Handtuch-Werfen verknüpfte, führten wir unsere Gemeinde durch vier Themenblöcke: Entsolidarisierung und sozialer Bankrott, Fremdenangst und „Migrationskrieg“, ökologische Katastrophe und Machtübergabe an künstliche Intelligenz und Robotik.

GOG / MAGOG 4 war durchtränkt von sektenhafter Freundlichkeit und Verweisen auf körperliche Endlichkeit und endete in einer gemeinschaftlichen Todesmediation aller Anwesenden, der Vergewisserung der endlichen Körper… bevor deren Inhabern die erworbenen Bildungscredits gutgeschrieben und die Entsorgung ihrer temporären fleischlichen Hüllen empfohlen wurde.