2009: Mauser

Für die Umsetzung von Mauser, einem Lehrstück von Heiner Müller, baten wir 27 Freunde und Familienmitglieder, für uns in ihrer Wohnung frontal in eine Kamera den Text einzusprechen, den wir ihnen Zeile für Zeile vorsagten. Aus diesem Videomaterial komponierten wir in aufwendiger Schnittarbeit bis zu zwölfstimmige Chöre, die das Grundgerüst der Inszenierung bildeten. In räumlich mobilen Fernsehgeräten wurde dieser Chor ein technisch-menschliches Mischwesen. Was ist politisch für solch einen Chor? Was bedeuten Tod und Identität für ihn? Was bedeuten sie angesichts seiner uns?

Um, lehrstückgerecht, die Probe auf diese Fragen zu machen, setzten wir uns als Vertreter des Einzelnen diesem Chor aus, formierten ihn, hörten und sahen ihm zu, antworteten auf ihn, bauten ihn um, ließen uns von seinen Litaneien und der physischen Schwere seiner „Glieder“ ermüden und von seinen geliebten Gesichtern berühren. Für die von uns live gesprochenen Textpassagen entwickelten wir verschiedene Sprech- und Organisations­weisen, ohne aber dabei die Sprecher festzulegen. Die letztendliche Gestalt der live gesprochenen Texte war also – im Gegensatz zu den auskomponierten Chören – immer improvisiert. Oft arbeiteten wir dabei, der Müllerschen Textform entsprechend, auch in den Kleinstrukturen mit Wiederholungen und Variationen, indem wir Satzteile, Tonfälle oder Haltungen der Kollegen übernahmen. Dazu kamen Einblendungen des Textes auf den Fernsehern des Chors, die das Gesprochene für die Zuschauer kontrollierbar machten.

Das Publikum betrachteten wir dabei als Mitspieler in dieser Übung, es hatte in unseren Veranstaltungen volle Bewegungsfreiheit im Raum. Seine Rolle war dabei ambivalent: Körperlich anwesend wie wir Spieler, aber überzählig und von uns geschieden, standen die Zuschauer zwischen den Positionen von Einzelnem und Kollektiv, mussten sich selbst zuordnen oder eine dritte Stellung im Konflikt finden. Die räumlichen Konfigu­rationen, die wir im Spiel über unsere Positionierungen wie die der Fernseher entwarfen, veränderten und zerbrachen, dienten auch der Organisation dieses zweiten, stillen Chor des Stücks. Umgekehrt beeinflussten die Bewegungen der Zuschauer unsere eigenen Entscheidun­gen, ihre Reaktionen hatten Auswirkungen auf den Rhythmus der Abläufe. Sie waren Adressaten für unser Sprechen wie für die Ausrichtungen des Raums. Die einzelnen Abende waren damit für uns in ihrem Verlauf kaum absehbarer als für unsere Gäste, die mitunter die prägnantesten Haltungen zum Chormaterial entwickeln.

Unterschiedliche Rahmen und Orte bedingten andere Dramaturgien und Raumpolitiken ebenso wie eine angepasste Bewerbung der Veranstaltung selbst. Für die Vorstellungen in Leipzig im Herbst 2009 kündigten wir die die Aufführungen als Workshops zu revolutionärer Rhetorik und Medienpräsenz an und banden praktische Übungen in den Stückverlauf mit ein. Unser Arbeitsraum, eine große ehemalige Werkshalle, begünstigte diesen Schwerpunkt auf Praxis und Bewegung. Ein Gastspiel in der Berliner Theaterkapelle im Herbst 2010 wiederum beschäftigte sich schwerpunktmäßig mit Blickbeziehungen, mit Nähe-Distanz-Wechseln und Regimen der Repräsentation. Dies lag wesentlich am völlig anders strukturierten Raum, der von seiner historischen kirchlichen Funktion, seiner eingebauten Bühne mit Vorhang und der regelmäßigen Nutzung als Theaterraum geprägt war.

Propaganda

Der Leipziger Mauser war eingebettet in das Aktionsprogramm „Und Du so?“, dessen Übungen zum friedlichen Demonstrieren in einem festlichen Besuch der Leipziger Feiern zu 20 Jahren Friedlicher Revolution™ gipfelten, wo wir den uralten revolutionären Menschheits-Idealen mit geteilter Geburtstagstorte und gemeinsamem Singen des Revolutionschores „Ich geh mit meiner Laterne (und meine Laterne mit mir)“ gerecht zu werden versuchten.

Als Werbemaßnahme vor dem Herbst unserer Arbeit präsentierten wir unser Projekt am 4. Juli 2009 in Leipzig-Plagwitz zum jährlichen Bürgerfest „Westbesuch“ mit einem Informationsstand. Unter dem Motto „TOD DEN FEINDEN DER REVOLUTION“ boten wir zwischen den Ständen der Polizei und der Katholischen Kirche ein reichhaltiges Mitmachangebot für Jung und Alt und alle Sinne. Unsere Angebote „Kerzen anzünden oder ausschießen für die Revolution“, „Testen Sie Ihr Einfühlungsvermögen“, „Ihre Unterschrift für eine gute Sache“ und „Aufnahme in den Chor der Revolution“ erfreuten sich regen Zuspruchs. Im Dienst der Vergrößerung unserer Publikumsbasis konnten wir zahlreiche Werbebuttons, Flyer und Handfeuerwaffen verteilen.

Am Sonntag, dem 2. August 2009, feierte die SPD auf dem zentralen Augustusplatz in Leipzig zum Wahlkampfauftakt den ersten Open-Air-Parteitag ihrer Geschichte. Als post-politische Agit-Prop-Kommando machten auch wir an diesem Tag Gebrauch von den vielfältigen Nutzungsmöglichkeiten des Augustusplatzes, um auf unsere aktuelle Agenda aufmerksam zu machen. Im Dienst des spielerischen Abbaus latenter Gewaltbereitschaft — gerade im Umfeld politischer Großveranstaltungen ein nicht zu unterschätzendes Problem, wie das anwesende Polizeiaufgebot bewies — konnten wir zahlreiche Wasserbehälter verteilen, die umgehend einer kämpferischen Nutzung zugeführt wurden. Besonders freuten wir uns darüber, bei dieser Gelegenheit die Unterstützung des prominenten SPD-Politikers Matthias Platzeck für unser Programm TOD DEN FEINDEN DER REVOLUTION gewinnen zu können (vgl. Dokumente m09-pr_op-1m09-pr_op-2).

Mauser

Umbesetzung für hybriden Chor und revolutionäre Leerstelle.

Mai bis September 2009,
Westwerk Leipzig.

Oktober 2010,
Theaterkapelle Berlin.

Kollektiv:
Franka Beck,
Daniel Hengst,
Josepha Vogel,
Arne Vogelgesang,
Christoph Wirth.

Chor:
Michael Barthel,
Sascha Block,
Fred Büchel,
Laurent Chétouane,
Marina Dessau,
Elisabeth Desta,
Doris Enders,
Ulrike Fiebig,
David Guttmann,
Dorothea Hebestreit,
Simone Hirth,
Heiko Klandt,
Ina Königs,
Stefan Kreißig,
Carolina Luszkiewicz,
Anne Mertin,
Anna Peschke,
Franziska Petruschke,
Martin Pommeranz,
Henry Rudolph,
Ulrike Schleinitz,
Melanie Schmidli,
Johannes Schmit,
Michael Schumpelt,
Amélie Tambour,
Petra Vogelgesang,
Muriel Zibulla.

Fotos:
Nils Bröer.

Förderer und Sponsoren
Kulturstiftung des Freistaates Sachsen
Gefördert von der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen.

SAE Institute
Mit freundlicher Unterstützung des SAE Institute Leipzig.

repromedia Leipzig
Wir drucken bei repromedia Leipzig.

nuoviso.tv
Gefilmt mit Kameras von NuoViso.

maskworld.com
Revolutionäre Bärte und mehr.

WESTWERK Logistics GmbH
Verwirklicht im WESTWERK.

TVC GmbH
Auf Bildschirmen der TVC GmbH.

Rheinmetall Waffe Munition GmbH
Wir danken der Rheinmetall Waffe Munition GmbH für die freundliche Kommunikation. (Ihr Kriegsgewinnler)

Quartiersmanagement Leipziger Westen
Mit Unterstützung des Quartiers-Managements Leipziger Westen.