2017: Staatenlos

In unserer Untersuchungsreihe radikaler politischer Szenen im Internet widmeten wir uns mit Staatenlos dem wachsenden Lager der Reichsbürger und Selbstverwalter. Was hat es mit der Abwendung der Bürger von ihrem eigenem Staat auf sich?

Für die Aufstellung dieser Frage nutzten wir das ebenso facettenreiche wie theatralische Material, mit dem staatsleugnende Aktivist*innen ihren Widerstand in Szene setzen: Initiationsriten, Staatsgründungs-Zeremonien, Schulungsseminare und dokumentierte Konfrontationen mit der Staatsgewalt. Staatenlos nahm dazu das Spiel von Fakt und Fiktion auf, das die Realität der Reichsbürger bestimmt. Was bedeutet es für das politische Mit- und Gegeneinander, wenn der reale Staat zur Illusion und stattdessen ein Scheinstaat zur bestimmenden Wirklichkeit erklärt wird?

Zugleich auf alte deutsche Reiche oder essentialistische Utopien bezogen und mit hochtechnisierten Methoden vertraut, verbinden Reichsbürger ewig Gestriges mit Hypermodernität. Menschen, die dem demokratischen Rechtssystem aus dem Weg gehen, eigene Scheinstaaten gründen, Steuern und Abgaben verweigern, die BRD als Briefkastenfirma verstehen und ihr den Krieg erklären, sind kein neues, aber immer aggressiver werdendes Phänomen in Deutschland. Der Weg in die Szene fängt dabei oft klein an, etwa mit einem Bußgeldbescheid und der Frage: Muss ich das eigentlich bezahlen? Suchergebnisse und Kommentare in sozialen Netzwerken führen zum Einstieg in den Widerstand. Bald wird die Kommunikation mit Amtsgerichten, Finanzämtern, Führerscheinstellen zum Schlachtfeld der Wahl, das Internet zur Waffe und das Leben in einer ideologischen Blase zu einer vermeintlichen Realität.

Für das Projekt kooperierten wir mit zwei Berliner Spielstätten: der Vierten Welt, wo wir unser Recherchebüro einrichteten und nach der ersten Arbeitsphase zu einer „Reichspraxiswerkstatt“ mit anschließender Diskussion des Arbeitsstandes luden, und unserem langjährigen Partner Theaterdiscounter, wo wir die abschließende Performance zeigten. Dort platzierten wir das Publikum in die Mitte eines Multifunktionssaales, dessen Architektur sich teilweise als ebenso illusionär entpuppte wie die Grenze zwischen politischer Spiel- und Realebene.

Der Verzicht auf das Label Totschläger und Waffennarren bewirkte, dass man sich stärker auf das Denken der Protagonisten einlassen konnte. Das […] machte deutlich, dass einer Gesellschaft, die ihren Vertrag auf Chancengerechtigkeit nicht einhält, die Leute davonlaufen. Sie landen dabei nicht mehr in den alten Empörungsinstitutionen der Sozialdemokraten, Sozialisten oder Anarchisten, sondern bilden ganz eigene Netzwerke. Die kann man bekämpfen. Man kann aber auch so etwas wie „Fluchtursachenforschung“ betreiben. „Staatenlos“ ist ein […] Schritt in diese Richtung.

(taz, 16.10.2017)

Staatenlos

Generalversammlung deutschsprachiger Reichsbürger*innen und Selbstverwalter

Juni-Oktober 2017,
Mai 2019,
Vierte Welt Berlin,
Theaterdiscounter Berlin.

Menschen:
Marina Miller Dessau,
Katharina Haverich,
Arne Vogelgesang,
Christoph Wirth.

Raum & Kostüm:
primavera*maas.

Interaktionsdesign:
Holger Heißmeyer.

Video:
Lenny Triefenschal.

Produktion:
Annette Hardegen.

Eine Produktion von internil in
Kooperation mit Theaterdiscounter und Vierte Welt.

Koproduktion durch NFT Netzwerk Freier Theater.

Gefördert durch den Hauptstadtkulturfonds.
Hauptstadtkulturfonds

Fotos:
Nils Bröer.